Was ist systemisch?

Paradigma statt Theorie

„Systemisches Denken“ kennzeichnet ein allgemeines wissenschaftliches Programm oder Paradigma und keine in sich abgeschlossene Theorie. Es umfasst heterogene Denkansätze aus verschiedenen Disziplinen, deren Gemeinsamkeit der nichtreduktionistische Umgang mit Komplexität ist: Allgemeine Systemtheorie, Autopoiesetheorie, Kybernetik (2. Ordnung), Synergetik, Kommunikationstheorie, Konstruktivismus, sozialer Konstruktionismus, Theorie der Selbstreferentialität, der Selbstorganisation und dynamischer Systeme, Chaostheorie usw.

Rekursivität statt Kausalität

Vor dem systemischen Denkhintergrund werden Menschen als autonom und prinzipiell unverfügbar betrachtet. Sie bleiben füreinander in sozialen Interaktionen grundsätzlich undurchschaubar. Sie werden mithin als weder vollständig erfassbar noch beliebig veränderbar bzw. instruierbar verstanden. Kognition und Kommunikation werden als rekursive Prozesse aufgefasst. Somit weicht das Konzept der Kausalität dem der rekursiven Vernetzung und Multifaktorialität. Erkenntnis wird als beobachterabhängig verstanden, so dass Objektivität als Kriterium „guten“ Wissens entfällt.

Hier erklären Ihnen Fachleute einige Aspekte des Systemischen Ansatzes in Videos

Selbst-Expertentum

Statt der immer besseren „Erfassung“ von Individuen und Systemen rücken der Erkennende (Beobachter) und Aspekte seiner Persönlichkeit (Vorerfahrungen, Glaubenssysteme, Tabus und „blinde Flecken“) in den Vordergrund. Systemisch ausgerichtete Therapeut_innen, Berater_innen und Supervisor_innen gehen von der Autonomie der Rat- und Hilfesuchenden aus und betrachten diese als „Experten und Expertinnen ihrer selbst“. Dabei wird das individuelle Erleben der Einzelnen als subjektive Verarbeitung ihrer lebensgeschichtlichen, affektiven und kognitiven Beziehungserfahrungen verstanden.

Wirklichkeit erzeugen

Systemische Praxis fokussiert sich darauf, wie Mitglieder sozialer Systeme über Handlungen und Sprache Wirklichkeiten erzeugen und diese über spezifische Muster und Interaktionsprozesse aufrechterhalten. Intra- und interindividuelle Probleme werden auf der Ebene kommunikativer Muster und Beziehungsstrukturen sozialer Systeme rekonstruiert (Problemsystem, Kontextualisierung). Interventionen, die auf diese Muster günstig einwirken, lösen Veränderungen aus und tragen zur Problemlösung bei. Dabei kann es sich um die Anregung und Aktualisierung vorhandener kognitiver und interaktioneller Strukturen, um das Überwinden problematischer Muster oder um eine Entwicklungsförderung handeln.

Beschreibung statt starrer Zuschreibung

Im therapeutischen und beraterischen Bereich orientiert sich systemische Praxis am Anliegen der Klienten (Kund_innen) und verzichtet auf normative Zielsetzungen und Pathologisierung. Im Rahmen von fürsorglichen und sozial-pädagogischen Maßnahmen knüpft systemische Praxis an die Ressourcen der Beteiligten an, um ethisch vertretbare Zustände herbeizuführen.

Systemische Praxis verfolgt gemäß ihrem theoretischen Ansatz weder das Ziel, die Probleme nur diagnostisch zu erkunden und zu klassifizieren, noch sie monokausal zu verändern. Vielmehr versucht sie, im Dialog mit den Betroffenen Beschreibungen zu entwickeln, welche die Möglichkeiten aller Beteiligten, wahrzunehmen, zu denken und zu handeln, erweitern. Sie sucht also nach Bedingungen, mit deren Hilfe die Klienten ihre Ressourcen aktivieren können, um in Selbstorganisation zu ihren Zielen gelangen zu können.

Ressourcen und Ziele

Seelische Probleme und Störungen werden in der systemischen Therapie nicht als innerpsychische „Krankheit“ beschrieben, deren tief in der Vergangenheit liegende Ursachen es zu ergründen gilt. Sie sind auch kein Anlass, die Betroffenen darin zu bestärken, sie seien arme Opfer schwieriger Umstände.

Stattdessen kann ein Problem als Herausforderung gesehen werden, wodurch bei den Betroffenen und bedeutsamen Personen in ihrer Umgebung neue Kräfte geweckt werden können – und auch geweckt werden wollen. Es wird von dem ausgegangen, was Betroffene selbst verändern wollen und was sich auch verändern lässt. Statt Resignation, Einengung und Selbstmitleid liegt der Schwerpunkt auf der Anerkennung bereits vorhandener Fähigkeiten, auf Zukunftsperspektive und Selbstbestimmung, auch bei scheinbar aussichtslosen Problemen.

Festgefahrenes in Bewegung bringen

Im zwischenmenschlichen Miteinander entstehen Muster. Diese können hilfreich sein, sie können aber auch als problematisch erlebt werden. Im systemischen Ansatz tritt die Ergründung der Ursachen dieser Musterentstehung und -erhaltung eher in den Hintergrund, und es wird versucht, diese Muster zu „verstören“, damit sie nicht wie gewohnt ablaufen und sich neue bilden können.

Im systemischen Therapie- bzw. Beratungsprozess wird eine Meta-Stabilität geschaffen, in welcher Vertrauen und das Gefühl von Sicherheit entstehen können. Innerhalb dieses stabilen Rahmens werden festgefahrene Denk-, Erwartungs- und Verhaltensroutinen, die das festgefahrene, unerwünschte Muster nähren, verstört.

Muster entstehen sowohl in den gewohnten „Systemen“ unserer sozialen Welt – z. B. Familien, Schulklassen, Gemeinden, Teams und Organisationen – als auch in allen anderen Bereichen.

Besonders dort, wo viele Professionen auf Kooperationen angewiesen sind, z. B. im diffizilen Beziehungsgeflecht zwischen Patient_innen, Ärzt_innen und medizinischem sowie psychosozialem Personal, hat systemisches Denken Einzug gehalten und breite Anerkennung gewonnen.

Ausführliche Beschreibungen

In einer Broschüre hat die Systemische Gesellschaft das grundsätzliche Herangehen sehr ausführlich beschrieben und die systemische Praxis anschaulich anhand verschiedener Beispiele dargestellt.

Diese Broschüre ist über unsere Medienseite erhältlich.