Systemische Methoden
Aus dem systemischen Ansatz entstanden Arbeitsmethoden, die für systemisches Arbeiten bis heute kennzeichnend sind, weil sie es ermöglichen, Mehrpersonensysteme zu interviewen bzw. Systeme in Bewegung zu bringen. Der Kern systemischen Arbeitens ist die systemische Grundhaltung, die
- Menschen in ihren Systemzusammenhängen in den Blick nimmt.
- eine kooperative, gleichberechtigte Beziehung zwischen allen Beteiligten einer Therapie oder Beratung sucht.
Zentrales Arbeitsmittel systemischer Praxis ist der öffnende Dialog. Den Klient_innen gegenüber bemüht man sich um eine Haltung des Respekts, der Unvoreingenommenheit, des Interesses und der Wertschätzung bisheriger Lebensstrategien und Verhaltensweisen. Dem ist der jeweilige Einsatz von Arbeitsmitteln und Handlungsstrategien nachgeordnet.
Zur systemischen Methodik lässt sich das gesamte Spektrum des in den vergangenen fünf Jahrzehnten in Familientherapie und Systemischer Therapie entstandenen Instrumentariums zählen:
- Auftraggeber_in und die Bedeutung von Kooperation
- Achtung vor der Autonomie und der Eigendynamik des Systems
- Wirklichkeit als gemeinsame „Konstruktion“ – die Veränderung „innerer Landkarten“
- Verstörung von Mustern
- Ausnahmen und „Möglichkeitssinn“
- Wunderfrage
- Zirkuläres/konstruktives Fragen
- Selbstreflexiver Dialog
- Externalisierung
- Reflektierendes Team
- Abschlussinterventionen und „Verschreibungen“
- Rituale
- Metaphern
- Genogramm, Skulpturarbeit, Aufstellungen
- Therapeutische Handlungsweisen aus anderen Ansätzen
Die Entdeckung der Auftraggeber_innen und die Bedeutung von Kooperation
Die Klärung der Auftragssituation spielt eine große Rolle. Sogar in einer Zweiersituation hat man es fast immer mit einer Komplexität von Erwartungen, Hoffnungen und Wünschen verschiedener anderer Personen zu tun, die sozusagen unsichtbar mit im Raum sitzen. Mit allen Beteiligten soll eine implizite oder explizite Kooperationsbeziehung entwickelt werden. Diese bezieht das Familiensystem oder andere Außenstehende mit ein, etwa Lehrer_innen, Ärzte_innen, Gerichte, Behörden, Vorgesetzte usw. Die Kernfrage ist: Wie können die Beteiligten ihre Möglichkeiten so zusammenbringen, dass ein gutes Ergebnis erzielt wird?
Achtung vor der Autonomie und der Eigendynamik des Systems
Eine sehr wesentliche Bedeutung hat im systemischen Modell die Achtung vor der Autonomie und der Eigendynamik des Systems, mit dem gearbeitet wird, da es sich letztlich der steuernden Kontrolle entzieht. So wird eher mit Angeboten operiert, die Wirklichkeit anders und neu zu sehen und möglichst genau darauf geachtet, dass das ratsuchende System nicht unter Druck gerät, eine Sichtweise – etwa die der beratenden Person – als die dominierende, richtige Sicht zu sehen.
Eine besondere Herausforderung ist es, für alle Beteiligten in diesem Kooperationsnetzwerk wertschätzende Beschreibungen zu finden, also auch hinter scheinbar destruktivem Verhalten nach dem potentiell konstruktiven Beitrag zu suchen.
Die Idee von Wirklichkeit als gemeinsamer „Konstruktion“
„Wirklichkeit“ wird als Ergebnis sozialer Konstruktion angesehen. Gemäß dieser Sichtweise “einigt” sich ein soziales System auf bestimmte Weisen, wie die Welt beschrieben wird. Solche Beschreibungen der Welt sind Einigungen – sie sind niemals objektiv und besitzen nicht ein für allemal Gültigkeit. Menschen befinden sich permanent in einem Prozess selbstorganisierter Bedeutungserzeugung, in welchem sie die Möglichkeiten, die Dinge zu sehen und zu beschreiben, wechselseitig einschränken. Diese Beschreibungen werden sehr genau daraufhin angeschaut, ob der Rahmen, der durch sie aufgespannt wird, beweglich ist oder festschreibend. So werden etwa Beschreibungen, die einer Person eine unabänderliche „Eigenschaft“ zuschreiben, immer wieder hinterfragt: „Was genau tut Ihr Mitarbeiter, wenn er das tut, was Sie ‚hinterhältig’ nennen?“ Die Idee der „gemeinsamen Konstruktion“ wird am deutlichsten im sogenannten „Reframing“ ausgedrückt – so gesehen eigentlich mehr als nur eine „Technik“: Die Wirklichkeit bekommt ihren Sinn erst durch das, was wir in ihr sehen. Und so ist es manchmal weniger nötig, die Dinge zu verändern, als vielmehr die Sichtweisen. Hierzu ein kleines Beispiel: Ein Vater beschwert sich – seine Töchter haben ständig Streit. Wie war es bei ihm zu Hause? Da gab es das nicht: Die Eltern waren sehr hart und streng, als „Notgemeinschaft“ hatte er sich mit seinen Geschwistern verbündet und stets zusammengehalten. Die Therapeutin bietet als „Reframing“ an: „Dann könnte man ja fast sagen, dass es ein ‚Kompliment’ ist, wenn Ihre Töchter sich ständig streiten. Sie zeigen, dass sie keine Notgemeinschaft bilden müssen, sondern dass sie in Ruhe lernen können, wie man harte Auseinandersetzungen führt.“ Für den Vater ist dies eine dramatische Veränderung der Sichtweise: „So habe ich das noch nie gesehen – ja, stimmt, es ist ein Kompliment an mich. Vor mir haben sie keine Angst.“
Die Idee der Verstörung von Mustern
Eine besondere Bedeutung bekam der Musterbegriff in der systemischen Praxis. Weniger und weniger wurden tiefgreifende Hypothesen über das Zustandekommen einer Störung herangezogen. Statt dessen erschien – und erscheint – heute ein Problem eben als „Muster“, als eine – wie auch immer zustandegekommene – Form des zwischenmenschlichen Miteinanders. An die Stelle der „Behandlung der Ursachen“ trat damit die Idee, dass es vor allem darum gehe, das gewohnte Muster des Umgangs zu unterbrechen, zu „verstören“, so dass es nicht mehr so wie gewohnt ablaufen kann. Wenn etwa in der Beratung eine Mutter gebeten wird, ihrem Kind das Stottern „beizubringen“, da der Berater unbedingt das „Vollbild“ sehen müsse, ehe er einen Vorschlag für die Behandlung machen könne, werden die gewohnten Abläufe in der Familie auf den Kopf gestellt. Statt ständig das Kind zu ermahnen, sich doch zu konzentrieren, langsamer und ohne Stottern zu reden, wird nun ein neues Muster nötig, in dem eine Chance steckt, dass sich die Interaktionen um ein Problem herum völlig verändern.
Die Entdeckung der Ausnahmen und des „Möglichkeitssinns“
Das empathische Eingehen auf das Leiden von Menschen hat eine lange Tradition – in jeglicher Form von Beratungstätigkeit. Es kann nicht darum gehen, diese Praxis zu entwerten. Doch könnte daneben auch eine andere Form des Handelns treten. Wir haben so viele Formen entwickelt, wie wir das Leid von Menschen verstehend nachvollziehen, dass wir manchmal vergessen haben, genauso empathisch für die in ihnen liegenden Möglichkeiten zu sein. In der systemischen Praxis wird dieser Entdeckung des Raumes von Möglichkeiten eine besondere Bedeutung beigemessen: Wenn etwa beklagt wird, dass man im Team „nicht mehr miteinander reden könne“, wird sofort gefragt: „Wann war es denn das letzte Mal, dass es eine Ausnahme gab und Sie sich gut verstanden haben?“ Nicht selten war es „gestern“.
Wunderfrage
Der Möglichkeitsraum beginnt sich zu öffnen, wenn Fragen gestellt werden wie die ‚Wunderfrage‘: „Gesetzt den Fall, heute Nacht geschieht ein Wunder und Sie könnten wieder so miteinander reden, wie es für Sie gut wäre: Woran würden Sie als erstes am nächsten Morgen bemerken, dass das Wunder geschehen ist?“ – Plötzlich zeigt sich, dass das Wunder und der Möglichkeitsraum in vielen kleinen Handlungen besteht, auf die man durchaus Einfluss hat.
Zirkuläres Fragen
Eine Person wird in Anwesenheit der anderen danach gefragt, was sie über die Beziehung der anderen denkt – so bekommen diese eine sehr komplexe Rückmeldung darüber, wie ihre Beziehung von der dritten Person wahrgenommen wird.
Selbstreflexiver Dialog
Eine andere Möglichkeit, Ratsuchende auf die “Metaebene” (von “außen” auf sich selbst schauen) einzuladen, ist der selbstreflexive Dialog: die beratende Person äußert auf wertschätzende Weise eigene Gedanken mit den Fürs und Widers, die einzelne Sichtweisen und Lösungswege beinhalten könnten. So kann sich die ratsuchende Person ohne Entscheidungsdruck an verschiedene Möglichkeiten herantasten.
Externalisierung
Der Konflikt einer Person bzw. einer Gruppe wird grammatikalisch in der dritten Person ausgesprochen (“Wo lässt ‘es ‘Sie gegen Ihren eigenen Willen handeln?”). Damit wird Distanz zum Problem und somit ein klarerer Blick darauf ermöglicht.
Die gewohnte Erzählung über das Problem wird “dekonstruiert” und eine neue Erzählung wird angeregt, welche diejenigen Lebenserfahrungn hervorhebt, die durch die bis dahin dominierende Geschichte verdeckt wurden.
Reflektierendes Team
Das Gespräch wird von einem Beobachtungsteam verfolgt. Etwa 2–3 Mal wird es unterbrochen und das ratsuchende System (Familie, Paar, Team) kann verfolgen, wie das Beobachtungsteam sich über das Gespräch unterhält. Auf diese Weise, so hat sich gezeigt, lassen sich veränderungsrelevante Informationen besonders leicht aufnehmen.
Abschlussintervention und Verschreibungen
Den Ratsuchenden werden Resümees, Handlungsvorschläge oder Aufgaben mit auf den Weg gegeben, die an Vertrautem anknüpfen, aber gleichzeitig die bisherigen Muster verstören. Das Verhalten der Mitglieder eines Systems soll für eine kurze Zeit unvorhersagbar werden, um so die Entwicklung neuer Muster zu ermöglichen.
Diese Vorgehensweise ist unter systemisch arbeitenden Menschen umstritten, da die gleichberechtigte Beziehung aus dem Gleichgewicht zu geraten droht.
Rituale
Rituale als gemeinsame, sinnstiftende Handlungen verbinden die daran beteiligten Menschen und schaffen eine hohe Verbindlichkeit und Nachhaltigkeit. Rituale einer Gruppe von Menschen können deren Selbstverständnis verdeutlichen. Mit deren Veränderung wird ein neues Selbstverständnis dokumentiert.
Rituale können im therapeutischen und beraterischen Prozess auch genutzt werden, um eine alte Struktur innerhalb eines geschützten Rahmens in eine neue zu überführen.
Metaphern und Geschichten
Mit Metaphern und Geschichten beschreiben Menschen ihr Erleben. Diese tragen zur Konstruktion unserer Wirklichkeit bei und wirken gleichzeitig auf das Erleben ein. Ihre Bildhaftigkeit ermöglicht, komplexe Themen in ihrer Gleichzeitig darzustellen.
Im therapeutischen und beraterischen Arbeiten kann das Ausmalen und Verändern der Metaphern und Geschichten auf sehr greifbare Weise Sinn- und Möglichkeitskonstruktionen verändern.
Genogramm, Skulpturarbeit, Aufstellungen
Bild
Im systemischen Arbeiten wird häufig an-schau-lich gearbeitet. So kann in einem Genogramm z.B. die Herkunftsfamilie oder in einem Organigramm der Arbeitszusammenhang bildlich dargestellt werden. Hierdurch werden Beziehungen und ggf. auch Beziehungsmuster deutlich, die bisher nicht bewusste Einflüsse auf ein als problematisch emfpundenes Verhalten hatten.
Raum
Ein weiterer Schritt in der Darstellung besteht darin, Beziehungen nicht nur als Zeichnung zu veranschaulichen, sondern auch räumlich wahrnehmbar zu machen.
In einer Aufstellung z.B. wird eine Person aufgefordert, sich selbst und die anderen so im Raum zu platzieren, wie sie die Beziehungsmuster wahrnimmt (z.B. wer steht wem nah, wer schaut wen an?). Bei einer Skulptur können zusätzlich wahrgenommene Beziehungscharakteristika eingebracht werden (z.B. wer ist „oben“, wer „unten“, wer nimmt wem gegenüber welche Körspersprache ein? usw.).
Es können auch stellvertretend Figuren aller Art aufgestellt werden (z. B. im Einzelsetting). Hier fehlt dann die Rückmeldung der Stellvertretenden, doch die Sicht der aufstellenden Person bleibt erhalten.
Therapeutische Handlungsweisen aus anderen Ansätzen
Systemische Praxis kann sich zudem durchaus aus dem Inventar therapeutischer Handlungsweisen, die in anderen Ansätzen erarbeitet wurden, bedienen, wie z.B. der Arbeit mit Glaubenssätzen (“Welche fest verankerten Überzeugungen bestimmen mein Verhalten immer wieder?”) oder Fragen zur Altersregression (“Wie alt fühle ich mich in der Situation X?”)