Meike Wehmeyer: Menschen mit Intelligenzminderung und psychischer Störung - Qualitative Studie zur Überwindung von Spannungsfeldern zwischen Familie, Heim und Psychiatrie

Menschen mit Intelligenzminderung und psychischer Störung stehen gemeinsam mit ihren Unterstützern im Mittelpunkt dieser Forschungsarbeit. Die Lebenswelt der Betroffenen ist aufgrund der angeborenen kognitiven, sprachlichen und emotionalen Entwicklungsstörungen sowie der damit einhergehenden Beeinträchtigungen adaptiven Verhaltens meist durch
zahlreiche Behinderungen und Barrieren gekennzeichnet. Für intellektuell eingeschränkte Personen ist das Risiko, im Laufe ihres Lebens eine psychische Störung zu entwickeln, im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung um ein Drei- bis Vierfaches erhöht. Mindestens jeder fünfte Betroffene weist eine psychische Störung auf, die Häufigkeit bedeutsamer Verhaltensstörungen wird mit bis zu 40% angegeben. Insbesondere aggressive Verhaltensstörungen
führen vermehrt zu einer stationären Einweisung und erschweren die gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft.

Die vorliegende Studie geht aus einem größeren, zwischenzeitlich abgeschlossenen Praxisforschungsprojekt mit dem Titel ‚Systemtherapeutische Methoden in der psychiatrischen
Akutversorgung von Menschen mit geistiger Behinderung‘ (SYMPA-GB) hervor. Das SYMPA-GB-Projekt setzte sich aus zwei Teilen zusammen: erstens einer mehrjährigen systemischen Weiterbildung, basierend auf dem empirisch bewährten, nachhaltig wirksamen
Trainingsprogramm für allgemeinpsychiatrische Kontexte (SYMPA), zweitens einer multimethodischen Begleitforschung, welche vornehmlich der Frage nachging, wie sich verschiedene Facetten der seelischen Gesundheit von Patienten und SYMPA-geschulten Mitarbeitern über die Zeit und im Vergleich mit einer Kontrollgruppe entwickelten.

Die der Dissertation zugrunde liegende Studie fokussierte auf kognitiv beeinträchtigte Menschen, die in stationären Einrichtungen der Behindertenhilfe lebten und sich aufgrund stark
herausfordernden Verhaltens bereits mehrmals oder längere Zeit in stationär-psychiatrischer Behandlung befanden. Das übergeordnete Ziel bestand in einer Analyse der Beziehungswelten und Kooperationen im Multi-Helfersystem. Dabei wurden die Systeme Familie, gesetzliche Betreuung, Heim sowie Psychiatrie mit Ambulanz und Station berücksichtigt.
Drei Fragestellungen waren forschungsleitend: Welche Spannungsfelder werden im Zusammenwirken der Beteiligten offensichtlich? Welches Handlungswissen dient den Akteuren
dazu, aggressiv-eskalierende Interaktionen zu bewältigen oder zu vermeiden? Inwiefern entsprechen die von den Helfern eingesetzten Handlungsstrategien systemischen Theorien oder Praktiken?

Für die Bearbeitung wurde ein qualitativer Forschungsansatz gewählt, die Annäherung an den Forschungsgegenstand erfolgte über Leitfaden-Interviews mit den Helfern sowie den intellektuell beeinträchtigten Personen. Interviewfragen bezogen sich auf die zwischenzeitliche Entwicklung des Betreffenden, die Beziehungen und Kooperationen im Helfernetz sowie das jeweilige Verhalten im Kontext aggressiver Vorfälle. Innerhalb der 2,5-jährigen
Erhebungsphase wurden mit jedem Interviewpartner bis zu vier Interviews geführt.

Insgesamt nahmen 67 Personen an der Studie teil, davon 14 Personen mit Intelligenzminderungen unterschiedlichen Schweregrades. Ein zwischenzeitlicher Drop-Out war nicht zu verzeichnen. Der Datensatz bestand aus ca. 125 Stunden Textmaterial aus 188 Interviews.
Dieses wurde via PC-gestützter qualitativer Inhaltsanalyse in ein Kategoriensystem überführt, welches sämtliche Strategien für ein gelingendes, möglichst konfliktarmes Miteinander von Personen mit Intelligenzminderung und deren Helfern abbildet. Das Kategoriensystem erreichte eine sehr gute Inter-Raterreliabilität.

Es wurden 30 interpersonelle Strategien ermittelt, die hinsichtlich Haltung, Kontakt, Kommunikation und Kontext generell zu einem gelingenden Miteinander von Personen mit Intelligenzminderung und ihren Unterstützern beitragen. Weitere 13 Strategien konzentrieren sich auf kritische Situationen und spezifizieren, wie eine Eskalation vermieden, entschärft oder im Nachhinein aufgearbeitet wird. Differenzierte Analysen zur Gültigkeit belegen, dass die ermittelte Strategien-Sammlung als valide eingestuft werden kann.

Die dargestellten Bedingtheiten, Kontroversen oder Ambivalenzen innerhalb oder zwischen einzelnen Strategien illustrieren mögliche Spannungsfelder in der Zusammenarbeit, so zum
Beispiel das Pendeln zwischen der Entwicklung von Förderplänen und Zielvereinbarungen einerseits und der Akzeptanz von Barrieren und Grenzen in der Entwicklung andererseits. Oder das Abwägen zwischen dem Nutzen, die Eltern in die Zusammenarbeit zu integrieren, und dem Auftrag, die Autonomie und Selbstbestimmung der eingeschränkten Person zu unterstützen. Auch das Anliegen von Heimmitarbeitern, die stationäre Einweisung eines Heimbewohners möglichst zu vermeiden, obwohl selbst Helfer und Mitbewohner unmittelbar davon profitieren, vermag das eigene Handeln und die Zusammenarbeit zu erschweren.

Viele Strategien können mit systemischen Denk- und Handlungsansätzen verknüpft werden. Dazu gehören die Akzeptanz subjektiver Wirklichkeiten und differierender System-Welten,
die Sinnhaftigkeit von Problemverhalten, das Klären und Verhandeln von (gegenseitigen) Anliegen, die selbstreflexive Haltung im Hinblick auf Wechselwirkungen, die Fokussierung auf Ressourcen und Stärken von Betroffenen und Helfern sowie die Einstellung, zwischen
allen Beteiligten für Transparenz, Mitbestimmung und einen wertschätzenden Austausch vonExpertise zu sorgen.

Für die Anwendung im fachlichen Diskurs erhielt die Strategien-Sammlung den Titel „SMILE: Systemisch-inspirierte Methoden für die Interaktion und Lösung von Eskalationsmustern.“ SMILE kann als Anregung für die inhaltliche und thematische Ausgestaltung von systemisch ausgerichteten Weiterbildungsprogrammen wie SYMPA-GB dienen. Diskussionswürdige Themen sind beispielsweise der Ablösungsprozess von Menschen mit Assistenzbedarf im
Hinblick auf eine bezogene Individuation, die Verteilung von Einfluss, Macht und Expertise im Multi-Helfersystem in Verbindung mit Wertschätzung und dem Prinzip „Augenhöhe“ sowie
die gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit Intelligenzminderungen an einer fallbezogenen Zusammenarbeit unter Berücksichtigung ihrer kognitiven und sprachlichen Barrieren.

Neuartig ist das SMILE-Konzept dadurch, dass es für den Bereich Intelligenzminderung – unabhängig von Schweregrad, Störungsbild oder Helferrolle – sowohl ein präventives Modell zur Beziehungsgestaltung als auch ein interventives Konzept zur Krisenbewältigung bereitstellt, entwickelt aus der alltäglichen und kollektiven Handlungspraxis von Betroffenen sowie deren familiären wie beruflichen Helfern. Eine besondere Stärke liegt in der detaillierten Darstellung nützlicher Handlungsstrategien für die Zusammenarbeit im Multi-Helfersystem an den Schnittstellen zwischen Familie, Heim und Psychiatrie. Die aus dem SMILE-Konzept hervorgegangene Checkliste kann in gemeinsamen Fallgesprächen als Anregung dienen, um die persönlichen Stellschrauben für ein gelingendes Miteinander zu reflektieren und das eigene oder kollektive Handlungsspektrum bei Problemen oder Krisen zu erweitern.