Patrick Fornaro: „Bedeutsame Momente“ in der systemischen Paartherapie. Mikroanalytische Prozessforschung im Spannungsfeld zwischen quantitativen und qualitativen Methoden
Dissertation, Ludwig-Maximilians-Universität München.
Dass Psychotherapienund Paartherapien wirksam sind, belegen zahlreiche Studien. Viel zu wenig ist allerdings über die Wirkmechanismen von Therapie bekannt. Prozessforschung kann dabei helfen besser zu verstehen, was in Therapien eigentlich geschieht. Sie möchte Therapeuten konkrete Anhaltspunkte an die Hand geben, wie sie Augenblick für Augenblick ihre Entscheidungen über das Vorgehen im Sitzungsverlauf treffen können. Vor dem Hintergrund systemisch-konstruktivistischer Epistemologie und Modellbildung nähert sich die vorliegende Arbeit dem therapeutischen Prozess über Therapieabschnitte der Dauer von drei Minuten, die detailliert qualitativ und quantitativ beforscht werden. Einbezogen werden Daten auf unterschiedlichen zeitlichen Auflösungsebenen (von Hundertstelsekunden über Minuten, Therapiestunden, Tage, Wochen und Monate) und aus unterschiedlichen Blickwinkeln (Innenperspektive, Außenperspektive, objektive Messungen).
Theorie.
Es werden die Grundlagen systemischer Paartherapiemodelle unter besonderer Berücksichtigung der Differenzierung des Selbst und narrativer Theorien vorgestellt. Generische Theorien wie die Theorie sozialer Systeme, die Synergetik (Theorie nichtlinearer dynamischer Systeme) und die Theorie der kognitiven Dissonanz werden für die Anwendung auf die systemische Paartherapie übersetzt. Die Notwendigkeit einer an Prozesshaftigkeit, Sinnbezug und Ganzheitlichkeit ausgerichteten Therapieforschung wird diskutiert. Diese scheint am besten in Form von kombinierten qualitativen/quantitativen Einzelfallstudien realisierbar. Prozessmodelle therapeutischer Veränderung werden als Betrachtungsfolien auf einer mittleren Ebene eingeführt. Eine Analyse der bisherigen Literatur mündet in eine systemisch-konstruktivistische Definition bedeutsamer Momente: Sie sind nichts, das per se existiert, sondern von unterschiedlichen Beobachtern gewählte Zeitpunkte im Therapieprozess, die aus Sicht der Therapiepraxis als phänomenologische Einheit therapeutischen Geschehens gelten können, aus Sicht der Forschung wertvolle Zugangspunkte für die umfassende Erforschung von Therapieprozessen anbieten.
Vorstudie 1.
Die therapeutische Allianz stellt unabhängig von schulenspezifischen Interventionstechniken einen der bestbeforschten Einflussfaktoren für das Gelingen von Therapien dar. Ein möglicher Zugang zur Erfassung der Allianz auf Ebene von Minuten und Therapiestunden verläuft über die Analyse der synchronisierten Körperbewegungen zwischen Klienten und Therapeut. Die Bewegungssynchronisation hat sich in Einzeltherapien als guter Marker für die Beziehungsqualität erwiesen. Besonderheiten des triadischen Settings in der Paartherapie wurden bislang nicht berücksichtigt. In der vorliegenden Studie wurden die Videos von 45 Therapiestunden aus fünf Paartherapieverläufen mithilfe eines computerbasierten Verfahrens, der Motion Energy Analysis, hinsichtlich des Ausmaßes an Bewegungssynchronisation ausgewertet. Des Weiteren wurden zur Messung der Allianz Abschnitte der Dauer von drei Minuten mithilfe des System for Observing Family Therapy Alliances (SOFTA) kodiert. Um auch die Sicht der Klienten zu erfassen, füllten diese am Ende jeder Stunde einen Prozessbeurteilungsbogen aus. Die Synchronisation zwischen den Körperbewegungen von Mann, Frau und Therapeut in Paartherapien lässt sich statistisch gegen zufällig auftretende Synchronisation absichern. Auf Ebene von Drei-Minuten-Abschnitten zeigen sich in einer kanonischen Korrelation bedeutsame Zusammenhänge zwischen den automatisch ermittelten Synchronisationswerten und der raterbasierten Kodierung der therapeutischen Allianz. Auf Ebene ganzer Therapiestunden spiegeln höhere Synchronisationswerte zwischen Therapeut und Mann sowie zwischen Therapeut und Frau eine bessere Allianz und einen besseren Prozessverlauf wider. Erhöhte Synchronisation zwischen Mann und Frau scheint eher Ausdruck einer emotionalen Ansteckung zu sein und korreliert negativ mit den Allianz- und Therapieprozesswerten. Geschlechtsspezifische Effekte werden diskutiert. Die Motion Energy Analysis erweist sich neben Beobachterratings und über diese hinaus als eine ökonomische und valide Möglichkeit, um die Entwicklung der therapeutischen Beziehung in Paartherapieprozessen auf Minuten- und Stundenebene zu erfassen. Somit eignet sich das Verfahren als Ausgangspunkt für die Gruppen- und Einzelfallforschung. Künftige Studien sollten eine größere Stichprobe einbeziehen und Prozessvariablen detaillierter berücksichtigen.
Vorstudie
2.
Das therapeutische Zyklusmodell beschreibt Therapieprozesse auf Ebene der verbalen Interaktion als Abfolge von vier Sprachmustern, die sich aus emotionalen und kognitiv-abstrakten Komponenten zusammensetzen. Computergestützte Analysen der Therapietranskripte haben sich in der Einzel- und Gruppentherapie als geeignet erwiesen, automatisch Schlüsselstellen im therapeutischen Prozess zu ermitteln. Eine Anwendung des Verfahrens in der Paartherapie stand bislang aus und setzt eine Anpassung der technischen Umsetzung sowie den Einbezug eines systemtheoretischen Rahmens voraus. Die Therapietranskripte von 45 Therapiestunden aus fünf Paartherapieverläufen wurden mithilfe der automatischen Textanalysen ausgewertet. Die Klienten füllten nach jeder Stunde einen Prozessbeurteilungsbogen aus. Für ein Paar lagen Kodierungen für die Problem-
und Ursachenkonstruktion innerhalb der Stunden vor. Nach entsprechender technischer Anpassung kann die automatische Auswertung der Therapietranskripte in der Paartherapie eingesetzt werden.
Es konnten für alle Einzelpersonen und Personenkombinationen therapeutische Zyklen und Schlüsselstellen ermittelt werden. Die Verteilung der Muster unterscheidet sich hypothesenkonform zwischen Paaren, Personen und je nach Ausgang der Therapie. Auf Ebene von Drei-Minuten-Segmenten und auf Ebene ganzer Therapiestunden finden sich hypothesenkonforme Zusammenhänge zwischen den Sprachmustern und anderen Selbst- und Fremdbeurteilungsmaßen. Die grafische Auswertung der Sprachmuster erlaubt eine intuitive
Untersuchung von Paartherapien auf Segment- und Stundenebene. Die automatischen Sprachanalysen erweisen sich als vielversprechendes und valides Verfahren für die Paartherapieprozessforschung. Künftige Studien sollten die Ergebnisse unter Einbezug von mehreren Paaren untermauern.
Einzelfallstudie: Forschungsparadigma.
Eine engmaschige Erforschung von Paartherapieprozessen auf der Mikro
– (Sekunden und Minuten in Therapiestunden), Meso
– (Stundenabfolge, tägliche
Befragungen zwischen den Therapiesitzungen) und
Makroebene (prä/post Therapie) erfordert den
Einsatz einer umfangreichen Sammlung von Erhebungs
– und Auswertungsverfahren, die in der bi
s-
herigen Literatur fehlte. Für alle Zeitebenen werden in der vorliegenden Arbeit Instrumente zur E
r-
hebung und Verarbeit
ung von quantitativen und qualitativen Daten aus der Innen-
und Außenpe
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spektive vorgestellt. Ein besonderes Augenmerk wird auf Instrumente zur Erfassung und Auswe
r-
tung von bedeutsamen Momenten in Therapiestunden gelegt. Das qualitative Rahmenmodell der
Co
mprehensive Process Analysis wird systemisch
-konstruktivistisch reflektiert und ins Zentrum der
Datenorganisation und –
auswertung gestellt. Daneben wird eine spezielle Form farbig darstellbarer
Datenmatrizen eingeführt, die analog einer Orchesterpartitur E
ntwicklungsprozesse innerhalb von
Therapiestunden übersichtlich zusammenfasst. In die Erstellung dieser Matrix fließen Methoden der
Zeitreihenanalyse selbstorganisierter komplexer dynamischer Systeme ein. Diese sind in der Lage,
Zeiträume kritischer Instab
ilität zu markieren, welche mit einer dramatischen Neuorganisation der
Systemdynamik einhergehen.
Einzelfallstudie: Auswertung.
Ein einzelner Therapieabschnitt der Dauer von drei Minuten wurde
in dieser Arbeit detailliert ausgewertet, unter Einbezug von quantitativen und qualitativen Daten aus
unterschiedlichen Beobachterperspektiven und auf unterschiedlichen Zeitebenen. Inhaltlich wurde
dabei der Frage nachgegangen, wie es einem Therapeuten gelingen kann, in der Arbeit mit einem
hochbelasteten Paar einen e
rsten Anhauch von Lösungsorientierung einzuführen. Die Auswertung
folgte den drei Hauptabschnitten einer Comprehensive Process Analysis: Mikroanalyse (Was macht
den untersuchten Moment bedeutsam?), Kontextanalyse (Welche Faktoren spielen für das Zusta
n-
dekommen des Moments eine Rolle?) und Folgenanalyse (Welche Entwicklungen ergeben sich aus dem untersuchten Moment?). Die abschließende Diskussion ergibt, dass die Untersuchung von Therapieprozessen aus systemisch-konstruktivistischer Sicht aufgrund der Komplexität der Phänomene und wegen des Fehlens einer objektiven Wirklichkeit stets eine beobachterabhängige Annäherung bleiben wird. Die Herangehensweise über bedeutsame Momente unter Einbezug quantitativer und qualitativer Verfahren sowie der Prozessperspektiv
e erweist sich insgesamt als aufschlussreich, um mehr über die Wirkungsweise von systemischen Paartherapien herauszufinden.