Exposé

Idiografische Nachzeichnung von Selbstorganisationsprozessen im Therapieverlauf bei
Patient*innen mit Depression – eine qualitative Analyse von therapiebegleitenden
Tagebuchdaten


Mit der Anerkennung der systemischen Therapie als psychotherapeutisches
Richtlinienverfahren nimmt die Popularität nicht nur dieser, sondern auch der systemischen
Forschung zu. Das stellt einen Gewinn für die Entwicklungsmöglichkeit der
Psychotherapieforschung dar, denn die systemische Psychologie bietet mit ihrer
mathematischen Verankerung in Systemtheorien wie der Synergetik ein großes Potential für
eine anwendungsnahe Psychotherapieprozessforschung und fördert damit die Verzahnung
von Forschung und Praxis. So ist es mithilfe der Synergetik möglich, nomothetische mit
idiographischer Forschung auf einer schulenunabhängigen Metaebene zu verbinden
(Schiepek, 2012). Um synergetische Forschungsergebnisse für die psychotherapeutische
Praxis fruchtbar zu machen, ist es jedoch notwendig, Konzepte der Selbstorganisation für
den Anwendungskontext mit Bedeutung anzureichern.


Diese Masterarbeit trägt dazu bei, psychotherapeutische Transformationsprozesse im Sinne
der Selbstorganisation bei Menschen mit diagnostizierter Depression auf der individuellen
Personenebene verstehbar zu machen. Dazu wurden in einem Mixed-Methods-Design
quantitative und qualitative Therapieprozessdaten verknüpft.
Die Zeitreihendaten wurden mit Methoden, die aus der Synergetik abgeleitet wurden, auf
Phänomene der Selbstorganisation untersucht. Diese quantitativen Methoden nehmen mit
ihren Validierungsoptionen in der Mathematik der Theorie nichtlinearer dynamischer
Systeme einen wichtigen Platz in der idiographischen Untersuchung von
psychotherapeutischen Selbstorganisationsprozessen ein (Gelo & Salvatore, 2016). Dennoch
bilden sie nicht alle Aspekte des innerpsychischen Transformationsverlaufs ab, da sie
zunächst keine Aussagekraft über das Erleben der Person enthalten (Ochs, 2012).
Deshalb ist eine zusätzliche qualitative Betrachtung dieser Prozesse unabdingbar. Sie bringt
das Forschungsfeld dem Anspruch näher, den Menschen ganzheitlich wahrzunehmen. Die
qualitative Perspektive beleuchtet einen toten Winkel der quantitativen Betrachtung, indem
sie den Effekt von Selbstorganisationsprozessen auf der subjektiven Erlebensebene
abbildbar macht (Ochs, 2012). So wurden in dieser Arbeit parallel erhobene Tagebuchdaten
unter heuristischem Einbezug synergetischer Konzepte ausgewertet und Indikatoren für
Transformation im Sinne der Selbstorganisation darin identifiziert. Mit der Grounded Theory
Methodologie wurde dazu eine Methodologie genutzt, die durch ihr zirkulär-iteratives
Vorgehen zur Ordnungsbildung oder Sinngebung und der Möglichkeit zur Integration
unterschiedlicher Perspektiven erkenntnistheoretisch sehr gut mit der Synergetik
einhergeht.

Die Gegenüberstellung der quantitativen und qualitativen Ergebnisse förderte nicht nur die
Entwicklung eines differenzierteren Verständnisses synergetischer Konzepte und Methoden
in der Psychotherapieforschung. Mit der Ergänzung der quantitativen Forschung durch die
Perspektive des subjektiven Erlebens, wurden darüber hinaus synergetische Konzepte mit
Inhalt angereichert und so für den psychotherapeutischen Praxiskontext nutzbar gemacht.
Somit dienen die Ergebnisse dieser Arbeit als Nährboden für die Nutzung der Synergetik und
der abgeleiteten quantitativen Methoden im Anwendungsfeld der Psychotherapie.

Literatur
Gelo, O. C. G. & Salvatore, S. (2016). A dynamic systems approach to psychotherapy: A meta-theoretical
framework for explaining psychotherapy change processes. Journal of Counseling Psychology, 63(4), 379–
395.

Ochs, M. (2012). Systemisch forschen per Methodenvielfalt – konzeptuelle Überlegungen und
Anwendungsbeispiele. In M. Ochs & J. Schweitzer (Hrsg.), Handbuch Forschung für Systemiker (S. 396–
420). Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH.

Schiepek, G. (2012). Systemische Forschung – ein Methodenüberblick. In M. Ochs & J. Schweitzer (Hrsg.),
Handbuch Forschung für Systemiker (S. 33–69). Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH.

Zusammenfassung
Theoretischer Hintergrund: Psychotherapieverläufe sind individuell und im psychothe-
rapeutischen Praxiskontext ist vor allem der intraindividuelle Vergleich relevant. Daher
eignen sich idiographische Forschungsansätze in der Psychotherapieprozessforschung,
um die Übertragbarkeit von wissenschaftlichen Erkenntnissen auf den psychotherapeuti-
schen Praxiskontext zu ermöglichen. Eine vielversprechende Forschungslinie in der idio-
graphischen Psychotherapieprozessforschung ist die quantitative Auswertung von Zeitrei-
hendaten unter dem Paradigma der Selbstorganisation. Zur Beschreibung von Selbstorga-
nisationsprozessen in der Psychotherapieforschung hat sich die Systemtheorie der Sy-
nergetik etabliert. Jedoch bedarf es einer Kombination der quantitativen Methoden mit
der subjektiven Erlebensebene, um eine ganzheitliche Betrachtungsweise zu ermöglichen.
Fragestellung: Ziel dieser Arbeit war es, psychotherapeutische Transformationsprozesse
von Patient*innen mit Depression vor dem Hintergrund des synergetischen Modells auf
der subjektiven Erlebensebene nachzuzeichnen und mit quantitativen Ergebnissen auf in-
dividueller Ebene in Beziehung zu setzen. Methode: Es wurden Tagebucheinträge und
Zeitreihendaten von fünf Patient*innen mit Depression in einem Mixed-Methods-Design
erhoben und ausgewertet. Die Daten wurden therapiebegleitend täglich mit dem syner-
getischen Navigationssystem erhoben. Aus dem Tagebuchmaterial wurden im Rahmen
der Grounded Theory Methodologie Indikatoren für Transformation extrahiert und auf
der Individualebene den Zeitreihenanalysen (dynamische Komplexität und Change Point
Analyse) gegenübergestellt. Ergebnisse: Im qualitativen Datenmaterial konnten Indika-
toren für Transformation identifiziert werden. Die sogenannten Phasen sind inhaltsun-
abhängig und haben einen operationalen Charakter. Die fünf extrahierten Phasen lauten
Stabilität eines Problemattraktors wahrnehmen, Verbesserung im Erleben und Verhalten
bemerken, Perspektiverweiterung, kritische Instabilität und Kairos bemerken. Durch die
Integration mit synergetischen Konzepten ermöglichen sie die Differenzierung von in-
nerpsychischen Phänomenen der Transformation aus Perspektive der Selbstorganisation.
Die Kombination der Zeitreihenanalysen mit der subjektiven Erlebensebene ermöglichte
die inhaltliche Anreicherung der wertneutralen synergetischen Konzepte in der Psycho-
therapie, zeigte aber auch ein facettenreicheres, differenzierteres Bild der individuellen
Transformationsprozesse. Schlussfolgerungen: Die Ergebnisse zeigen das Potential von
Mixed-Methods-Psychotherapieprozessforschung aus der Perspektive der Selbstorgani-
sation. Die Verknüpfung der abstrakten Konzepte der Selbstorganisation mit dem sub-
jektiven Erleben macht diese Masterarbeit insbesondere für den psychotherapeutischen
Praxiskontext nutzbar.

Schlagwörter: Psychotherapieprozessforschung, Selbstorganisation, Synergetik, Mixed-
Methods-Design, Real-Time-Monitoring