(Beschluss der Mitgliederversammlung vom 13. November 2020)

Grundsätze systemischen Denkens und Handelns in der SG

15. Mai 2020

 

Inhalt

Prämissen des systemischen Ansatzes

Wissenschaftliche Grundlagen

Systemische Praxis

Ethische Grundlagen systemischer Praxis

Der politische Kontext systemischen Handelns

 

Prämissen des systemischen Ansatzes

Der systemische Ansatz lässt sich verstehen als eine multiperspektivische und multidimensionale Herangehensweise an die Fragen des Lebens und der sich dabei erschließenden Welt. Biologische, psychische und soziale Systeme werden als autonome, selbstorganisierte Systeme verstanden, die sich in Wechselwirkungen mit ihrer jeweiligen Umwelt entwickeln und nicht durch äußere Eingriffe determiniert, sondern allenfalls zu Änderungen angeregt werden können.

Diese Herangehensweise geht davon aus, dass jede Erkenntnis der Welt in ihrer Komplexität nur eine mögliche Konstruktion von Wirklichkeit darstellt.

Der systemische Ansatz setzt daher auf eine Vielfalt von Perspektiven anstelle der Suche nach Gewissheit. Zentrale Prämissen dabei sind die Kontextorientierung und das Prinzip der Beobachtung 2. Ordnung.

  • Jedes beobachtete Phänomen erhält seine Bedeutung in Abhängigkeit von den Kontexten, in denen es beobachtet werden kann (Kontextabhängigkeit). Die Erfassung und Einbeziehung relevanter Kontexte ist daher ein Leitmotiv systemisch verstandenen Handelns (Kontextsensibilität).
  • Unter der Beobachtung 2. Ordnung ist zu verstehen, dass die Beobachtung und Beschreibung von Wirklichkeit – als Beobachterkonstruktion – selbst ein relevanter Kontext für das Verständnis beliebiger Phänomene darstellt und daher immer in die Beschreibung einbezogen werden muss. Der Beobachter ist aus dieser Perspektive immer Teil des zu beobachtenden Systems.

Wissenschaftliche Grundlagen

Ein systemisches Wissenschaftsverständnis lässt sich als Paradigma beschreiben, das heterogene Denkansätze aus verschiedenen Theorietraditionen umfasst, z.B. die Allgemeine Systemtheorie, Autopoiesetheorie, Kybernetik (2. Ordnung), Synergetik, Kommunikationstheorie, Konstruktivismus, sozialer Konstruktionismus, Theorie der Selbstreferentialität, der Selbstorganisation und dynamischer Systeme, Chaostheorie usw. Sie verbindet ein nichtreduktionistischer Umgang mit Komplexität, der

  • auf unilineare Kausalannahmen verzichtet und
  • komplexe zirkuläre Wechselwirkungen zwischen körperlichen, psychischen und sozialen Phänomenen
  • sowie deren Einbettung in verschiedenste persönliche, soziale, historische, ökonomische u.a. Kontexte erfasst.

Das systemische Paradigma ist transdisziplinär. Die Untersuchung und Beschreibung der Dynamik komplexer Systeme im Rahmen eines solchen Paradigmas ermöglicht Fragestellungen und Problembeschreibungen zu formulieren, die sich aus den einzeldisziplinären Zugängen allein überhaupt nicht gewinnen lassen. Transdisziplinariät hat ihren Ausgangspunkt in der Beobachtung komplexer Systemdynamiken (z.B. Familien, Organisation, Ökologie usw.) und nicht in disziplinspezifischen Begriffen, Konzepten und Modellen.

Systemische Forschung kennzeichnet sich durch eine methodendistanzierte und selbstreflexive

Haltung und den Verzicht auf objektivierende Wahrheitsaussagen.

Systemische Praxis

Systemische Praxis verwirklicht sich als Kooperation, d.h. als gemeinschaftliches Wirken von Hilfesuchenden, professionellen Praktikern und Praktikerinnen und weiteren Akteuren im jeweils relevanten gesellschaftlichen Kontext. Aus der fortwährenden Klärung von Anlässen, Anliegen und Aufträgen unter Einbezug aller relevanten Kontexte ergeben sich die zentralen Themen der Kooperation. Ziel der Praxis ist dabei nicht das gezielte Herbeiführen von Veränderungen durch die Professionellen, sondern die Herstellung eines kommunikativen Rahmens, in dem die Erweiterung von Handlungsspielräumen und Freiheitsgraden der Hilfesuchenden möglich wird.

Systemische Praxis erfordert profundes Handwerkswissen. Dieses Wissen erschöpft sich nicht in der Anwendung von Techniken und Methoden, sondern erlaubt den Professionellen ein person-, konstellations- und prozessadäquates Vorgehen und die Entwicklung jeweils passender Formen der Zusammenarbeit. Von besonderer Bedeutung ist dabei die Herstellung einer respektvollen, wohlwollenden und Sicherheit bietenden Arbeitsbeziehung mit den Hilfesuchenden.

Diagnosen werden als beobachterabhängige Wirklichkeitskonstruktionen von Professionellen und Hilfesuchenden verstanden, die in bestimmten Kontexten Bedeutung erlangen und Wirkungen entfalten. Die kritische Reflexion von Diagnosen und Zuschreibungen ist ein elementarer Bestandteil systemischer Praxis.

Systemische Praxis verfolgt keine verdeckten Ziele, sondern zielt auf Transparenz als Grundlage gleichberechtigter Kooperation. Sie eröffnet die Möglichkeit, eine Vielfalt von Perspektiven einzunehmen und auf diese Weise Wahrnehmungs- und Entscheidungsspielräume zu eröffnen. Kontinuierliches Feedback unter allen Beteiligten ist dabei zentraler Bestandteil des gemeinsamen Prozesses.

Ethische Grundlagen systemischer Praxis

Die skizzierten Prämissen des Systemischen Ansatzes bilden die Grundlage für ein Menschenbild, das die Autonomie und Eigenverantwortlichkeit der Menschen in ihren sozialen Beziehungen ebenso respektiert wie ihre jeweiligen subjektiven Wirklichkeitskonstruktionen. Sie unterstreichen die lebenslang wirksame Möglichkeit zu konstruktiver Veränderung. Die systemisch fundierte Weltsicht bezieht sich auf die „Muster, die verbinden“ und macht dies zum Leitmotiv pfleglicher Umgangsformen miteinander, mit der Welt und der Umwelt. Wirklichkeitskonstruktionen, die diesen Respekt vermissen lassen, Menschen oder Gruppen aufgrund ihrer Herkunft, Religion, Geschlecht oder Überzeugung entwerten oder ausgrenzen, passen nicht zu einem systemischen Menschenbild. Die im systemischen Ansatz zentralen Begriffe „Neutralität“ und „Allparteilichkeit“ beziehen sich auf diese prinzipielle Gleichwertigkeit hinsichtlich sämtlicher menschlicher Unterscheidungsmerkmale.

Diese Grundlagen gelten gleichermaßen für die Systemische Arbeit mit Klientensystemen wie auch für die Aus- und Weiterbildung. Zu den ethischen Verpflichtungen für Mitglieder der Systemischen Gesellschaft gehört der faire und kooperative zwischenmenschliche Umgang. Die Systemische Gesellschaft verfügt über Ethik-Richtlinien und über ein Angebot zur Klärung und Vermittlung bei Beschwerden über mögliche Verletzungen ethischer Grundsätze. Grobe Verstöße werden geahndet, insbesondere das Ausnutzen von Abhängigkeiten.

Der politische Kontext systemischen Handelns

Systemische Perspektiven orientieren sich an den Errungenschaften der Aufklärung. Freiheit, Gleichheit, Laizismus, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sind Anspruch, Forderung und Versprechen zugleich; sie müssen immer wieder neu definiert, umgesetzt und verteidigt werden. Die Verteidigung der Würde des Menschen, der Menschenrechte und des Kinderschutzes sind ein unverzichtbarer Anspruch der Systemischen Gesellschaft, auch unter Berücksichtigung unterschiedlicher kontextueller und kultureller Bedingtheiten.

Als Systemische Gesellschaft und als Bürgerinnen und Bürger eines europäischen Landes treten wir auf der Grundlage unseres systemischen Leitbildes für Vielfalt, Offenheit, Durchlässigkeit, Transparenz, demokratische Prozesse und die Erweiterung von Handlungsoptionen ein. Unser Verständnis sozialer Systeme beschränkt sich nicht auf die Arbeit mit Klientensystemen, sondern ermöglicht die kritische Reflexion gesellschaftlicher, politischer und sozio-ökonomischer Entwicklungen und entsprechende gesellschaftspolitische Positionierungen.

 

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